Laudatio Annelies Strba
Von Stephan Kunz
Oktober 2020
Sehr geehrter Herr Schaub, sehr geehrte Mitglieder der Willy Reber-Stiftung, liebe Annelise Strba
Ich begrüsse Sie ganz herzlich von Seiten des Bündner Kunstmuseums zu dieser Preisverleihung und zur Eröffnung der Ausstellung «Die Geheimnisse des Willy Reber».
Ich begrüsse neben der Künstlerin ihre Familie und die zahlreichen Freunde von ihr und ihrer Kunst, die heute Abend zum Teil von weither nach Chur gereist sind.
Ich begrüsse auch die ehemaligen Preisträger des Willy Reber Kunstpreises. Heute hier anwesend sind Corsin Fontana und Beat Zoderer – Franz Gertsch, Pipilotti Rist und Rolf Iseli mussten sich leider entschuldigen.
Ich begrüsse auch die Freunde des Bündner Kunstmuseums sowie Barbara Gabrielli, die Leiterin des Amtes für Kultur und Dr. Nicole Seeberger, administrative Direktorin des Bündner Kunstmuseums.
Es gibt Bilder, die brennen sich im Laufe eines Lebens in der Erinnerung ein. Wir alle haben ein Bildgedächtnis. Bei den einen ist es stärker, bei den andern weniger ausgeprägt.
Erinnerung hat – das wissen wir alle – viel mit Fotografie zu tun. Vieles, was in unserem Leben Bedeutung hat, verbinden wir mit Fotografien. Private Aufnahmen oder auch Bilder aus den Medien. Zuweilen bleibt es für uns ununterscheidbar, ob wir uns an die Ereignisse erinnern oder eher an die Bilder, in denen diese festgehalten sind.
Als Kunsthistoriker und als Mitarbeiter eines Museums kann ich nicht verbergen, dass mein persönliches Bildgedächtnis sehr stark auch von der Kunstgeschichte geprägt ist, von Begegnungen mit Kunst und mit Künstlerinnen und Künstlern und ihren Werken. Sie begleiten mich durch mein Leben, und es gibt immer wieder Momente, in denen sich diese Bilder in den Vordergrund schieben: in einem bestimmten Moment, in der Begegnung mit anderen Kunstwerken, beim Lesen, in der Vorbereitung für eine Ausstellung – und bei vielen anderen Gelegenheiten. Und ich gebe gerne zu – nicht nur heute Abend aus gegebenem Anlass! –, dass mich die Fotografien von Annelies Strba seit meiner ersten Begegnung mit ihnen 1990 in der Kunsthalle Zürich begleiten:
Wenn es zu Beginn weniger einzelne Aufnahmen waren, die mich intrigierten, sondern vielmehr die eindringliche Stimmung, die von den Familienbildern, von den Häusern aus Osteuropa und von der geradezu malerischen Qualität der Schwarz-Weiss-Aufnahmen ausging und mir bedeuteten, dass die Künstler anderes sucht als die fotografische Wiedergabe einer sichtbaren Wirklichkeit, so war es 1997 in einer Ausstellung von Annelies Strba im Aargauer Kunsthaus eine einzelne Aufnahme, die mir unvergesslich bleibt: Sie zeigt zwei Männer in weissen Schutzanzügen vor der mit Stacheldraht umzäunten Anlage des Kernkraftwerkes von Tschernobyl. Sie tragen grosse Sensen – wie der Tod in Bildnern des späten Mittelalters.
Wir alle erinnern uns an den Moment, an dem die Bedrohung durch das Unglück in Tschernobyl in greifbare Nähe rückte. Wir alle erinnern uns, wie sich die Angst in unserem Leben festsetzte und uns sogar beim täglichen Einkauf begleitete. Ich kenne aber kein Bild, das diese Situation so stark zum Ausdruck bringt wie diese Fotografie, die Annelies Strba acht Jahre nach dem Unglück aufgenommen hat – nicht vor Ort, sondern ab Fernseh-Bildschirm. Doppelt distanziert könnte man meinen, auch durch die mediale Vervielfältigung – aber nein: so direkt und so berührend wie nur möglich. Der Tod begegnet uns hier in seiner Urgestalt, in zeitloser Symbolik und zugleich in zeitgenössischem Gewand. Noch heute läuft es mir kalt über den Rücken, wenn ich dieses Bild betrachte und dabei realisiere, dass es seine Aktualität nicht verloren hat, wohl nie verlieren wird – auch wenn wir Tschernobyl schon fast vergessen haben, obwohl wir es nicht vergessen dürfen.
Die ersten Aufnahmen, die wir von Annelies Strba sehen konnte, waren von grosser Privatheit und Intimität. Sie haben uns damals seltsam berührt, weil wir damit in ein anderes Leben Einblick erhielten: Die Familie am Tisch, die Kinder in ihren Zimmern, bei der Toilette, beim Anziehen und immer wieder beim Schlafen – versunken in eine Welt, deren Geheimnisse wir ihnen mit unseren Blicken nicht rauben wollten.
In unseren eigenen Familien-Fotoalben gibt es vielleicht ähnliche Aufnahmen, lange geschützt zwischen den Deckeln der kostbaren Bücher, heute immer wieder offen zugänglich auf den sozialen Medien und im Internet. Annelies Strba hat die Privatheit dieser Aufnahmen bewahrt, auch wenn sie sie vergrösserte und ab 1990 – die Künstlerin war bereits über 40 Jahre alt als sie damit erstmals an die Öffentlichkeit trat – in Ausstellungen zeigte. Sie hat die Verletzlichkeit der Bilder bewahrt, indem sie eine fotografische Umsetzung wählte, welche die Fotografie weniger als technisches Medium (hergestellt von einem Apparat) versteht, sondern ihnen einen physischen Körper verleiht: in grossen Abzügen auf Fotoleinwand oder auf Fotopapier mit unregelmässig geschnittenen Rändern, roh an die Wand gepinnt. Alles steigerte die Expressivität der Aufnahme – und die Bilder lösten sich aus dem privaten Kontext und wurden Allgemeingut.
Annelies Strba hat damit von Anfang an deutlich gemacht, dass sie neue Wege in der Fotografie gehen und das 150 Jahre alte Medium in verschiedene Richtungen erweitern wollte. Im Jahr ihrer ersten Einzelpräsentation hat im Museum für Gestaltung Zürich eine epochale Ausstellung unter dem Titel «Wichtig Bilder» stattgefunden. Diese war ganz dem künstlerischen Umgang mit dem Medium Fotografie gewidmet und dokumentierte, wie weit das Feld gerade auch in der zeitgenössischen Schweizer Kunst zu dieser Zeit war: Von Robert Frank über Balthasar Burkhard bis Hanna Villiger. Annelies Strba war in dieser Ausstellung nicht vertreten, aber sie gehört in diesen Kontext, weil sie in ihrem Schaffen die Fotografie «neu erfand» – so zumindest würde es Hans Danuser beschreiben, ein anderer wichtiger Vertreter der neuen Künstlerfotografie, der auch mit unserem Museum eng verbunden ist und hier zusammen mit Gaudenz Signorell dafür sorgte, dass die Fotografie ins Kunstmuseum einzog.
Annelies Strba war in den 1980er Jahren die Autorin der Aufnahmen für die Kataloge der Schmuckstücke ihres Mannes Bernhard Schobinger und des gemeinsamen Künstlerfreundes Adrian Schiess. Damals waren wir alle überrascht, dass Kunstreproduktion auch ganz anders sein konnte, als wir das von klassischen Ausstellungskatalogen kannten, und ein Werk nicht «neutral» zeigen muss, sondern in einem bestimmten Kontext, in einer subjektiven Sichtweise dargestellt, ganz andere Qualitäten zum Ausdruck bringen kann. Heute wissen wir, dass Annelies Strba damit der Kunstfotografie und der Kataloggestaltung prägende Impulse gab. Ich wage zu behaupten, dass auch die zeitgenössische Architekturfotografie ohne diesen neuen Blick nicht denkbar wäre. Annelies Strba hat hier als Künstlerin Pionierarbeit geleistet. Das kann nicht hoch genug gewürdigt werden.
Die erwähnte Ausstellung 1997 im Aargauer Kunsthaus zeigte neben weiteren Bilder der Familie vermehrt Landschaften und Bilder von Brennpunkten der Zeitgeschichte: Hiroshima, Kobe oder Tschernobyl, aber auch Landschafts- und Städtebilder von Reisen der Künstlerin nach England, Schottland oder Japan, die von einer intimen Sichtweise geprägt sind, in der direkten Begegnung vor Ort oder vermittelt durch literarische Erlebnisse. Diese Aufnahmen hat sie nie im Kontrast zu den Innenräumen und Familienbildern gesehen, sondern immer als parallele Bildwelten.
Zu diesen Bildern gehören die erwähnten Aufnahmen aus Tschernobyl: Wir sehen etwa einen im goldenen Abendlicht brennenden Reaktor – nicht die Kernschmelzung, sondern das Licht lässt ihn entzündlich erscheinen. Zu diesen Bildern gehört auch die berühmte Aufnahme der Schnitter vor der Umzäunungsmauer mit ihren geschulterten Sensen. Sie können sich vorstellen, dass mich insbesondere dieses Bild in den letzten Jahren während der Vorbereitung zu unserer Ausstellung «Dance Me to the End of Love» begleitete. In einer Ausstellung im Zeichen der Ikonographie des Todes, wäre dieses Bild für mich ein Leitmotiv gewesen und wir hätten es wohl ganz prominent gezeigt. Mit dem Fokus auf das Motiv des Tanzes aber und einer Entgrenzung des Ichs in der Ekstase sind wir in unserer Ausstellung andere Wege gegangen. Dennoch sehe ich dieses Bild von Annelies Strba immer vor mir, wenn ich durch unsere aktuelle Ausstellung gehe: Ich erinnere mich an die beiden weiss gekleideten Männer, die wie aus einer anderen Welt in der bitteren Realität der verseuchten Landschaft erscheinen und mit ihren Sensen das trotz allem wachsende Gras schneiden. Niemand weiss, ob das Leben oder der Tod obsiegen wird. Dieses Bild kann ich nicht mehr vergessen – es wird mich mein Leben lang begleiten.
Neu in der Aarauer Ausstellung waren neben diesen Aufnahmen Landschafts- und Städtebilder. In den Titeln der Aufnahmen aus England klingen immer wieder literarische Quellen an, allen voran die Wuthering highs (Sturmhöhen) von Emily Brontë und die Phantasiewelten von ihr und ihrer Schwester Charlotte Brontë. Auch diese Landschaftsaufnahmen sind sehr stimmungsvoll, geprägt von einer Sicht auf die Welt, die geprägt ist von Erinnerungen und Bildern der Imagination. Kein Wunder, dass wir als Betrachtende dabei auch an die grosse Geschichte der Landschaftsmalerei denken, von Claude Lorrain und Nicolas Poussin über Thomas Gainsborough bis zu John Constable. Damit wird deutlich, dass sich Annelies Strba mit ihren Fotografien mindestens so nahe an der Malerei bewegt wie in der Welt der Fotografie. Darauf hat die Künstlerin in den folgenden Jahren aufgebaut und den malerischen Aspekt immer mehr hervorgehoben:
Das hat einerseits dazu geführt, dass sie ihre Aufnahmen in der digitalen Bearbeitung stark zu manipulieren begann und soweit verfremdete, dass sie einen eigentlichen Farbrausch erzeugen, der weit weg von der abgebildeten Wirklichkeit führt und das Bild in seiner Eigenständigkeit betont. Anderseits hat Annelies Strba ihre Fotoprints auch malerisch überarbeitet und damit die Grenze der Medien ganz aufgehoben. Nicht zufällig hat sie ihre Fotografien wie schon in den 1980er Jahren immer wieder auf Leinwand reproduziert und damit noch grössere Nähe zur Malerei gesucht. Dass ihre Freundschaft mit dem Maler Adrian Schiess sie hier zu neuen Experimenten beflügelte, ist nicht von der Hand zu weisen – so wie Annelies Strba den Maler in den 1980er Jahren animierte, seine Kunst immer stärker und immer radikaler auf die subjektive, zeitbezogene Wahrnehmung hin auszurichten. – Künstlerfreundschaften sind ein wunderbares Feld gegenseitiger Inspiration, mit dem sich zu beschäftigen ein anregendes Unterfangen ist, weil die Form der Aneignung ganz besonders hervortreten lässt, was die Künstlerin oder den Künstler im Kern beschäftigt.
In jüngster Zeit ist Annelies Strba mit zwei Projekten in Erscheinung getreten, die Anknüpfungspunkte in ihrer eigenen Werkbiographie haben und zugleich in die Kunstgeschichte verweisen bzw. in die Geschichte der Bedeutung und Wirkung von Bildern in eine durchaus philosophischen Betrachtunsweise – vorgeführt mit den Mitteln der Kunst.
Zu diesen neuen Projekten gehören ihre Madonnen, die sie in einer Ausstellung in der Graphischen Sammlung der ETH Zürich zeigte und für die sie auf Reproduktionen von Madonnenbildern und Votivtafeln aus der Kunst- und Kulturgeschichte zurückgriff und diese so überarbeitete, dass weniger die Vorlage als vielmehr die Kraft ihrer Erscheinung im Fokus steht. Vielleicht könnte man sagen, dass Annelies Strba in ihrer Umsetzung die Aura der Madonnen sichtbar macht. Das, was laut Walter Benjamin dem Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit verloren geht, holt Annelies Strba unmissverständlich zurück: Berührt von der Erscheinung der Madonnen-Bilder übersetzt sie diese Emotionalität in die Sprache ihrer Kunst.
Und natürlich klingen in den Madonnen auch die Familienbilder ihrer ersten Schaffensjahre an, insbesondere, wenn der Lauf des Lebens spielt: wenn ihre Töchter nun selbst Mütter geworden sind und mit den Enkelkindern vor der Kamera erscheinen. Der Lebenskreis dreht sich weiter.
Und ganz aktuell: In diesem Sommer haben Film-Aufnahmen von Annelies Strba die Besuchenden der grossen «Nonnen»-Ausstellung im Landesmuseum empfangen. Die Eröffnung der Ausstellung bildete ein runder Raum, gebildet aus Stoffbahnen, die von der Decke hingen, mit Videoprojektionen, die sogleich eine sakrale Atmosphäre erzeugten. Die Installation führte uns zu Beginn der Ausstellung in eine Welt der Meditation und in Bereiche der Visionen. Wer die Ausstellung über «starke Frauen» und Religiosität und Macht im Mittelalter besuchte, tauchte zuerst in eine Welt ein, in der man die Gesänge der Hildegard von Bingen zu hören meinte. Von hier aus war es nur ein kleiner Schritt in die Welt der Geistlichkeit.
Wer sich mit der Kunst von Annelies Strba beschäftigt, hat in dieser Installation im Landesmuseum einmal mehr erfahren, was ihr bezüglich der Wirkung und der Strahlkraft ihrer Bilder wichtig ist. Wer mit diesem Blick zurück auf die Schwarz-Weiss-Aufnahmen ihrer künstlerischen Anfangszeit schaut, wird noch einmal feststellen, dass hier eine Künstlerin am Werk ist, die die technischen Bedingungen der Fotografie nützt, diese aber hinter sich lässt, um dem fotografischen Bild ein Geheimnis zu verleihen.
Vielleicht meint man darin auch eine Tendenz zum Verführerischen zu erkennen. Wer möchte sich aber dem Rausch der Farben entziehen, der uns hier in Bann zieht? Wer möchte nicht einstimmen in dieses Fest der Bilder? Wer möchte nicht mit der Künstlerin in die Traumwelt einsteigen, die sie schon in den Aufnahmen der schlafenden Kinder suggerierte? Mit Annelies Strba befragen wir die Bildwelt auf ihre Dimensionen neu. Wir steigen ein über die Motive und finden uns wieder in einer abstrakten Geisteswelt, die das rein Sinnliche transzendieren.
Das Bild Nyima auf der Einladungskarte zu dieser Preisverleihung, das wir auf einer Staffelei hier vor uns haben, vermag dieses Verständnis des Bildes als ein vielschichtiger Informationsträger deutlich zu machen: Zuerst erkennen wir ein Landschaftsbild, das deutlichen Hinweis gibt, in welcher kunstgeschichtlichen Tradition zwischen Barock und Romanik sich Annelies Strba verortet. Die gewählte Farbigkeit übersetzt die historische Vorlage in die Jetztzeit und verleiht ihr zugleich etwas Imaginäres, Zeitloses. Auf den zweiten Blick sehen wir dann das liegende Mädchen, das schlafend über der Seenlandschaft schwebt. Und mit einem Mal wissen wir nicht mehr, welche Realität bestimmend ist, weil sich beide Ebenen überlagern und sich gleichwertig begegnen. Das macht aus der Fotografie ein Drittes und wir steigen ein in einen Bilddiskurs, der uns Bilder neu befragen lässt. Hier liegt die besondere Qualität dieser Kunst.
Ich schliesse mit einem Hinweis auf ein Projekt, das wir mit Annelies Strba vorhaben: Schon bevor sie den Preis der Willy Reber-Stiftung erhielt, habe ich Annelies Strba eingeladen, die nächste Kunsteinrichtung der Villa Garbald in Castasegna zu machen. Ohne Corona wäre das schon in diesem Sommer realisiert worden. Nun haben wir es auf nächstes Jahr verschoben. Noch ist nicht spruchreif, was in dieser Ausstellung zu sehen sein wird. Verbunden mit der Einladung war aber auch mein Hinweis auf den Künstlerfotografen Andrea Garbald, der in der besagten Villa in Castasegna lebte und arbeitete. Vielleicht ergibt sich ein Anknüpfungspunkt, wenn die Künstlerin auf Werke dieses Fotopioniers aus dem Bergell stösst. Vielleicht gibt ihr das neue Impulse in ihrem Werk? Vielleicht hilft es uns aber auch, einen neuen Blick auf das Schaffen von Andrea Garbald zu richten? Annelies Strba hat das Potential an diesem Ort, aus dieser Situation etwas ganz Besonderes zu machen. Lassen wir uns überraschen!
Mit bleibt es nun, Annelies Strba ganz herzlich zum Preis der Willy Reber-Stiftung zu gratulieren. Und ich übergebe nun das Wort zur Preisverleihung wieder an den Präsidenten der Stiftung.